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30.03.2017·Zahnmedizin Dentalprodukte zwischen Werbung und Wahrheit – und wie man das unterscheiden kann

·Zahnmedizin

Dentalprodukte zwischen Werbung und Wahrheit – und wie man das unterscheiden kann

von Dr. Georg Taffet, Rielasingen-Worblingen

| Haben Sie es schon erlebt, dass Hersteller und Händler von Medizinprodukten in ihren Werbeaussagen dem Arzt oder Zahnarzt irreführende, in der Praxis unhaltbare Zusicherungen zu den Eigenschaften ihrer Produkte versprechen? Da stellt sich die Frage, wie man hier Werbung und Wahrheit unterscheiden kann, um Schaden von der Praxis abzuwenden. |

Beispiel: ORMOCER – eine Alternative zu Amalgam

Diejenigen von uns, die schon 1998 in der Zahnheilkunde tätig waren, werden sich noch an die Besuche der Degussa-Vertreter erinnern: „Herr Doktor, ich habe für Sie die Amalgam-Alternative. Ein ORMOCER, eine ORganisch MOdifizierte CERamic. Preisgünstig, einfach zu verarbeiten wie Amalgam, ohne Dentinadhäsive oder Kofferdam. Einfach in den Zahn stopfen und Auspolimerisieren. Nicht giftig. Das Optimum für ‚soziale‘ zuzahlungsfreie Füllungen“.

 

Einige Wochen später stand der Vertreter von Ivoclar mit seinem „Ganz neu, Herr Doktor, ein Ormocer!“ bei mir auf der Matte. Ich habe damals den Vertreter gefragt, wie das denn funktionieren soll. Diese Füllungen können ja nicht dicht sein. Bakterien würden den Spalt unterwandern und die Pulpa infizieren. Amalgamfüllungen waren auch nicht dicht, aber wegen der Giftigkeit des Werkstoffs konnten sich darunter keine Bakterien vermehren. „Unser Material ist intelligent, Herr Doktor. Wenn Bakterien eindringen, entstehen Säuren, der Ph-Wert fällt. Als Reaktion darauf gibt unser Material dann Fluorid-Ionen frei, die Säuren abpuffern und den Zahn remineralisieren. Gleichzeitig wird ein bakterienunfreundliches Habitat erzielt.“ – Tolle Aussage. Ich kann mich an das Gespräche erinnern, als wäre es gestern gewesen!

 

Auch die mehrfarbigen Prospekte enthielten diese Aussagen und priesen die Ormocere als die „weiße Zukunft“ der Zahnmedizin an. Ich habe den Vertreter gefragt: „Wie lange werden diese die Fluoride freigegeben?“- „Für immer“ war die Antwort. „Nun“, habe ich gefragt, „woher kommen denn die Fluoride?“ -„Die sind im Material enthalten!“ – Irgendwie schien er sich darüber zu wundern, dass ich wohl nicht in der Lage war, das Offensichtliche zu verstehen. Meine Antwort: „Lieber Herr X, laut Ihrer Aussage müsste in dieser Füllung eine unendliche Menge Fluoride enthalten sein, damit die Abgabe ‚für immer‘ gewährleistet ist. In Anbetracht der wenigen Kubikmillimeter Füllungsmaterial pro Füllung kann ich das nicht glauben. Die Fluoridabgabe mag wohl über kurze Zeit da sein, wird aber auf Dauer nicht stattfinden können. Das sagt meine Logik. Deswegen nimm deine Probepackung wieder mit!“

 

Er hat mich mit großen, ungläubigen Augen angeschaut und ist kopfschüttelnd wieder gegangen. Bereits ein halbes Jahr später häuften sich in der Fachpresse Berichte über pulpitische Beschwerden unter Ormocer-Füllungen der beiden Hersteller. Die Kollegen, die die Werbeaussagen der Hersteller geglaubt und glücklich über die angebliche Amalgam-Alternative ihre Patienten auf breiter Basis mit diesen Materialien versorgt hatten, mussten nun viele Wurzelbehandlungen durchführen, wurden mit vielen unzufriedenen Patienten konfrontiert und haben viel Lehrgeld gezahlt. Die beiden Hersteller haben die Materialien wieder vom Markt genommen.

 

Der Marketingdirektor einer Firma, die ebenfalls an einem „Amalgam-Ersatz“ arbeitete, erklärte zu diesem Zeitpunkt gegenüber der Zeitung „Die Welt“, dass „wir Forschung und Anwendung parallel laufen lassen, anders geht es heute nicht mehr!“ Das war wirklich ein offenes Wort: Es bedeutet doch im Klartext, dass die Anwender unwissend den Versuch für die Industrie machen und dass die Patienten der betreffenden Praxen zu unfreiwilligen Versuchskaninchen degradiert werden.

Präzise Abformungen durch Silikone im feuchten Umfeld?

Ein renommierter Hersteller (Dentsply-Sirona) verspricht uns Zahnärzten in seiner Werbung ein Abformmaterial auf A-Silikon-Basis, das „selbst in einem feuchten Umfeld durchgängig präzise Abformungen ermöglicht. (Es) zeichnet sich durch beste Hydrophilie aus.“ Passend dazu haben die Marketingexperten dem Material den suggestiven Namen „Aquasil“ gegeben – „Wassersilikon“? Was ist bei diesen Aussagen Dichtung, was ist Wahrheit?

 

Silikone sind per se absolut hydrophobe Materialien, von Hydrophilie keine Spur. Deshalb versuchen Silikonabformmassen-Hersteller, die Abformqualität ihrer Materialien zu verbessern, indem sie Substanzen beimischen, die die Oberflächenspannung reduzieren: Tenside, wie sie in jedem Spülmittel enthalten sind. Natürlich wird damit die Bläschenbildung in der Abformung etwas reduziert. Aber „hydrophil“ wird das Abformmaterial dadurch keinesfalls! Es ist und bleibt hydrophob. Hydrophilie bedeutet, dass ein Abformmaterial in der Lage ist, den Feuchtigkeitsfilm, der auf dem abzuformenden Zahn liegt, in sich aufzusaugen. Nur solches Material wird tatsächlich den Zahn abformen. Alginate sind hydrophil. Für Präzisionsabformungen in der Zahnheilkunde geeignete hydrophile Materialien sind mir persönlich nur die etwas in Vergessenheit geratenen Hydrocolloide bekannt.

Extrahierte Zähne in Knochenersatzmaterial verwandeln

Neuerdings sind mir in den implantologischen Fachblättern ganzseitige Anzeigen für den „Smart Grinder“ aufgefallen: Das ist offensichtlich eine Art Kaffeebohnenmühle, mit der extrahierte Zähne gemahlen und in „autologes Knochenersatzmaterial“ verwandelt werden. Die reißerischen Werbeaussagen dazu schlagen meiner Meinung nach dem Fass den Boden endgütig aus! Behauptet wird: „Der große Vorteil dieses Verfahrens ist, dass ich nicht mehr ‚totes‘, amorphes Material implantiere, sondern bioaktives, das ALLE Wachstumsfaktoren enthält“. Auf der Webseite von „Champions Deutschland“ wird behauptet: „Die patienteneigenen Zähne als Knochenersatzmaterial zu verwenden bietet sich an, da Zahn- und Knochenmaterial eines Menschen praktisch identisch sind.“

 

Nun, mein Studium liegt zwar schon ein paar Jahre zurück. Ich kann mich jedoch erinnern, dass sehr wohl anatomische, histologische, metabolische und biologische Unterschiede zwischen Schmelz, Wurzelzement, Dentin und Knochen bestehen. Oder hat schon mal jemand ein Osteon in einem Zahn entdeckt? Weiter wird behauptet: „Das begeistert jeden Patienten: Extrahierte Weisheitszähne, die etliche Jahre in der Schublade lagen, können – nach Aufbereitung im Smart Grinder – als Knochenaugmentat reimplantiert verwendet werden.“ Also sind diese über Jahre in der „Schublade“ aufbewahrten Weisheitszähne nicht tot, sondern gleichzeitig bioaktiv? Enthalten „alle Wachstumsfaktoren“?

 

„Zuvor sollte man die extrahierten Zähne mithilfe von Winkelstück und Diamant unter Wasserkühlung von Weichgewebe reinigen und mit dem Luftbläser trocknen. Sämtliche Füllungen und Endo-Materialien sollte man ebenfalls entfernen.“ – Das ist logisch und macht Sinn. Es sollen ja keine alten Plomben, Karies, Zahnstein und gangränöses Pulpengewebe als Knochenersatzmaterialien mit implantiert werden … Allerdings:

 

Die Behauptung, dass dieses eine an die ZFA delegierbare Aufgabe darstellt, bezweifle ich stark … Oder können Ihre ZFAs mit Wurzelkanalinstrumenten hundertprozentig zuverlässig eine alte infizierte Wurzelfüllung aus den Kanälen eines Molaren entfernen? Oder eine farblich gut angepasste Kompositfüllung mit der Turbine?

 

Eines muss ich zum Schluss noch bemerken: Bereits der übliche Name für diese Materialien ist falsch: Es sind keine Knochenersatzmaterialien. Sie ersetzen nämlich leider den Knochen nicht! Es sind nur Knochenregenerationsmaterialien. Sie helfen dem Behandler mithilfe geeigneter chirurgischer Techniken, Knochen zu regenerieren.

Tipp: Werbeaussagen immer kritisch hinterfragen!

Vergessen Sie bitte nicht, mit Ihrer Fachkenntnis und Ihrem gesunden Menschenverstand die Werbeaussagen der Industrie und des Fachhandels kritisch zu hinterfragen. Vergessen Sie auch nie, dass nur Sie es sind, der mit seiner Fachkunde, seinen Erfahrungen und seinem handwerklichen Können die Probleme Ihres Patienten löst. Und zwar mithilfe der von Ihnen ausgesuchten Geräte und Materialien. Sie sind die Einzigen, die schlussendlich für eventuelle Schäden an Leib und Leben des Patienten zur Verantwortung herangezogen werden.

 

Nicht die Materialien und Geräte lösen die Probleme, ganz gleich was Ihnen die Hersteller versprechen. Frei nach Goethe: Dichtung und Wahrheit sind manchmal nicht das Gleiche. Das sollten wir unseren Handels- und Industriepartnern auch bei jeder sich ergebenden Gelegenheit bewusst machen: Sie haben als Hersteller von Medizinprodukten eine höhere Verantwortung zu tragen und höhere ethische Ansprüche zu erfüllen als die Hersteller irgendwelcher Produkte des täglichen Gebrauchs, die keine gesundheitlichen Schäden anrichten können.