10.000 € Schmerzensgeld für eine überflüssige und nicht erfolgversprechende Exzision ohne Einwilligung
Führt eine ohne Einwilligung der Patientin vorgenommene Erweiterung der zahnärztlichen Behandlung zur Verletzung des Nervus lingualis, kann unter dem weiteren Gesichtspunkt der Genugtuung ein Schmerzensgeld von 10.000 € in Betracht kommen. Das urteilte das Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt zu einem Schmerzensgeldanspruch.
Der beklagte Zahnarzt hatte die mit der Patientin abgesprochene Maßnahme, die Kaufläche des Zahnes 48 von einer Zahnfleischkapuze zu befreien, während der Behandlung nennenswert erweitert, ohne hierzu die notwendige Einwilligung der Patientin eingeholt zu haben. Nach Ansicht des Sachverständigen handelte es sich beim abgesprochenen oberflächlichen Abtragen einer Zahnfleischkapuze (Exzision 1) um eine einfache, wenig invasive Routine- oder Banalmaßnahme. Dagegen war die zusätzlich durchgeführte tiefe Exzision der Schleimhautwucherung (Exzision 2) ein zahnärztlich-chirurgischer Eingriff im engeren Sinne. Der Weisheitszahn musste bei der Exzision 2 teilweise operativ freigelegt werden, zur Rezidivprophylaxe wurde das Gewebe eingekürzt. Wird dabei auf der lingualen Seite des Zahns gearbeitet, besteht eine recht enge Lagebeziehung zum Verlauf u.a. des Nervus lingualis mit entsprechender Komplikationsmöglichkeit.
Erweiterung der Exzision ohne Zustimmung der Patientin
Erweitert ein Behandler den Eingriff in diesem Sinne, muss er innehalten und die weitergehende Einwilligung der Patientin einholen. Dies hatte der Zahnarzt nicht getan, sondern die Exzision 1 kommentarlos ohne Einwilligung auf eine Exzision 2 erweitert. Erschwerend kam in diesem Fall hinzu, dass die geplante tiefe Exzision regelmäßig nach einer Röntgenaufnahme verlangt, die in dem Fall nicht vorlag und auch intraoperativ nicht angefertigt wurde. Bei einem röntgenologisch erkennbaren Engstand ist die tiefe (komplikationsbehaftete und damit aufklärungsbedürftige) Exzision 2 eine sinnlose Maßnahme, weil dann – wie im Falle der Klägerin – die Extraktion des Zahnes die gebotene Behandlungsmethode ist.
Eine überflüssige und nicht erfolgversprechende Exzision
Der Zahnarzt habe „blind“ eine überflüssige und nicht erfolgversprechende tiefe Exzision durchgeführt. Dadurch kam es, so der Sachverständige, zweifelsfrei auf Grund der tiefen Exzision zu einer dauerhaften Verletzung des Nervus lingualis, deren Ursache das chirurgische Vorgehen war. Das Universitätsklinikum A. dokumentierte nachfolgend eine Anästhesie am vorderen und mittleren Drittel des rechten Zungenrandes.
Da der Sensibilitätsausfall bzw. die Beeinträchtigung der Sensibilität auch zwei Jahre nach der Behandlung fortbestünde, sei eine Restitutio ad integrum nicht zu erwarten. Durch Gewöhnung, Logopädie und Lerneffekte ließen sich die durch die Nervschädigung eingetretenen Beeinträchtigungen teilweise kompensieren. Der eigentliche Schaden sei nach Lage der Dinge indes dauerhaft, was die noch junge Klägerin sicherlich dauerhaft als Beeinträchtigung erfährt. Zumindest unter Berücksichtigung dessen darf die Klägerin nicht unter 10.000 € entschädigt werden, so das Urteil.
Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, 24.09.2024 – 1 U 86/23