Kostenübernahme für die Aligner/Invisalign®-Methode bei schwerster Behinderung
Besteht bei schwerster Behinderung die einzige Möglichkeit, die erforderliche kieferorthopädische Behandlung mittels der Aligner-/Invisalign®-Methode durchzuführen, kann im Einzelfall ein Anspruch hierauf bestehen, ohne dass dem entgegengehalten werden kann, es handele sich um eine neue Behandlungsmethode.
Der Fall
Die 2009 geborene Klägerin leidet am Phelan-McDermid-Syndrom, einer genetisch bedingten globalen Entwicklungsstörung mit schwerer geistiger Behinderung, fehlender Sprachentwicklung und neuromuskulären Symptomen. Sie hat einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 mit den Merkzeichen G, aG, H und RF. Sie hat den Pflegegrad 5 und leidet an einer schweren Kiefer- und Zahnfehlstellung (KIG-Einstufung A5).
In einer ausführlichen ärztlichen Stellungnahme hatte der behandelnde Kieferorthopäde dargelegt, dass die Behauptungen der Gutachterin, eine Alignertherapie würde „deutlich länger dauern“ und „die Therapieziele könnten damit mechanisch nicht erreicht werden“, schlicht nicht haltbar seien. Es gebe unzählige Gegenbeispiele und Urteile. Eine Aligner-Therapie sei für die Patientin und ihre Mutter die einzig praktikable Therapie.
Die Patientin akzeptierte keine Fremdkörper im Mund. Eine konventionelle aktive Platte oder eine funktionskieferorthopädische Apparatur würde nicht getragen. Eine Multibandapparatur sehe er äußerst kritisch bzw. unter keinen Umständen als praktikabel an.
- Erstens, weil diese Apparatur sehr pflegebedürftig sei und schon die normalen Mundhygienemaßnahmen von der Patientin nur sehr schwer durchgeführt werden könnten.
- Zweitens sei die festsitzende Apparatur relativ reparaturanfällig und SOSanfällig (Druckstellen, Verrutschen und Stechen der Bögen, Verlust der Brackets, …).
- Drittens müsse der Bogen alle 4-8 Wochen gewechselt werden, wobei eine Compliance ohne Narkose nicht möglich sei, was aus nachvollziehbaren Gründen auch nicht praktikabel und ethisch vertretbar sei.
Die Patientin müsste für jeden zahnärztlichen und kieferorthopädischen Eingriff und jede Kontrolle in Intubationsnarkose (ITN) gelegt werden. Die Aligner hingegen könnten von der Mutter der Patientin zu Hause eingesetzt und gewechselt werden. Sie lägen wie eine „zweite Haut“ auf den Zähnen und reduzierten das Fremdkörpergefühl auf ein Minimum. Die Therapie sei notwendig, um die Kaufunktion und die Myofunktion zu verbessern.
Der ursprüngliche Kassenplan sei mit konventionellen Apparaturen beantragt worden, da Aligner nicht im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) enthalten seien. Um dennoch eine zeitnahe Genehmigung zu erhalten, habe er es für sinnvoll erachtet, den konventionellen Plan einzureichen und anschließend eine Alignertherapie über einen privaten Heilkostenplan zu beantragen. Die Begutachtung durch den MDK habe die tatsächlichen schwierigen Umstände des Härtefalls und die damit verbundene Ausnahmesituation völlig außer Acht gelassen.
Das Urteil
Das Bayerische Landessozialgericht hat entschieden: Der Umstand, dass es sich bei der Aligner-Methode um eine neue Behandlungsmethode handelt, für die es (noch) keine Empfehlung des G-BA gibt, steht als einfachgesetzlicher Leistungsausschluss der Leistungsgewährung nicht entgegen, wenn sich der Verweis auf die herkömmlichen Behandlungsmethoden und die damit verbundene Ablehnung der Aligner/Invisalign-Methode als unvereinbar mit dem Benachteiligungsverbot wegen Behinderung gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und den Regelungen über die Gewährung von Gesundheitsdiensten gemäß Art. 25 UN-Behindertenrechtskonvention erweist.
LSG München, 25.06.2024 – L 5 KR 364/22