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30.09.2016·Richtlinien Ausnahme-Indikationen für seltene, besonders schwere Erkrankungen- was gibt es Neues?

·Richtlinien

Ausnahme-Indikationen für seltene, besonders schwere Erkrankungen- was gibt es Neues?

von ZMV Birgit Sayn; Praxisschulung, Seminare und Coaching, Leverkusen

| Implantologische Leistungen gehören nicht zur vertragszahnärztlichen Versorgung. Der Gesetzgeber hat jedoch Ausnahmen für seltene, besonders schwere Erkrankungen zugelassen, die als Ausnahme-Indikationen für implantologische Leistungen in den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) beschrieben sind. PI stellt die neuen Auffassungen vor. |

Wer entscheidet über eine Ausnahme-Indikation?

Um der Intention des Gesetzgebers gerecht zu werden, die Solidargemeinschaft in der GKV nur ausnahmsweise mit den Kosten für implantologische Leistungen zu belasten, müssen die Krankenkassen sämtliche Fälle, bei denen eine Ausnahme-Indikation in Betracht kommt, gutachterlich prüfen lassen. Liegt diese nach Überprüfung durch einen implantologischen Gutachter vor, besteht für den Patienten ein Anspruch auf alle notwendigen Leistungen einschließlich der Suprakonstruktion zulasten der Krankenkasse.

 

Im Jahr 2014 wurde von der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV) erstmalig ein Leitfaden für den implantologischen Gutachter publiziert, der jedoch aufgrund eines zwischenzeitlich ergangenen Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) konkreter gefasst werden musste. Die zweite Auflage des Leitfadens berücksichtigt die aktuelle Rechtsprechung des BSG zur Auslegung des Begriffs der medizinischen Gesamtbehandlung.

Ein Patientenfall vor dem Bundessozialgericht

Ein derzeit 27-jähriger Patient litt an einer Oligodontie. Ihm fehlten im Oberkiefer 10 und im Unterkiefer 12 der jeweils 16 bleibenden Zähne. Er beantragte bei seiner Krankenkasse das Einbringen von Knochentransplantaten mit nachfolgender Insertion von 11 enossalen Implantaten im Ober- und Unterkiefer. Die umfangreiche Planung erfolgte Ende 2006. Sie wurde jedoch von der Krankenkasse abgelehnt, sodass es zum Rechtsstreit kam.

 

Das BSG hat mit Urteil vom 07.05.2013 (Az. B 1 KR 19/12 R) definiert, wann implantologische Leistungen zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ausgeführt werden können. In § 28 Abs. 2 Satz 9 SGB V ist grundsätzlich eine Kostenübernahme durch die GKV ausgeschlossen – es sei denn, es liegt eine seltene Ausnahme-Indikation vor, die vom G-BA in den Behandlungs-Richtlinien nach § 92 Abs. 1 SGB V festgelegt ist. Nur in diesem Fall ist eine Sachleistung möglich. Voraussetzung ist, dass die implantologischen Leistungen im Rahmen einer medizinischen Gesamtbehandlung erfolgen. Eine derartige medizinische Gesamtbehandlung – so das BSG – müsse sich aus verschiedenen human- und zahnmedizinisch notwendigen Bestandteilen zusammensetzen, ohne sich in einem dieser Teile zu erschöpfen. Nicht die Wiederherstellung der Kaufunktion im Rahmen eines zahnärztlichen Gesamtkonzepts, sondern ein darüber hinaus gehendes medizinisches Gesamtziel muss der Behandlung ihr Gepräge geben. Das folgt sowohl aus dem Wortlaut der Regelung des § 28 Abs. 2 Satz 9 SGB V als auch aus ihrer Entstehungsgeschichte, dem Regelungssystem für Zahnersatz und dem Regelungszweck.

 

Wie das BSG bereits zur Kieferatrophie entschieden hat, schließt das Tatbestandsmerkmal der medizinischen Gesamtbehandlung von vornherein Fallgestaltungen aus, in denen das Ziel der implantologischen Behandlung nicht über die reine Versorgung mit Zahnersatz zur Wiederherstellung der Kaufähigkeit hinausreicht. Unerheblich ist, dass ggf. weitere Behandlungsmaßnahmen erforderlich sind (z. B. Knochenimplantationen), um die Insertion eines Zahnimplantats zu ermöglichen.

 

Die implantologischen Leistungen, die der Patient als Kläger beanspruchte, waren nicht im Rahmen einer medizinischen Gesamtbehandlung als Sachleistung zu erbringen. Vielmehr sollte die Versorgung mit implantologischen Leistungen lediglich Zahnersatz abstützen. Das BSG entschied somit, dass die Versorgung eines Kiefers mit Implantaten bei einer generalisierten genetischen Nichtanlage, die überwiegend oder alleinig zum Abstützen von Zahnersatz erfolgt, noch keinen Anspruch auf eine Sachleistung begründet.

Fehlbildungen durch Contergan: Kein Anspruch auf kostenfreie Versorgung mit Implantaten

In einem anderen Fall entschied das BSG am 04.03.2014 (Az. B 1 KR 6/13 R), dass eine Schädigung durch Contergan mit Fehlbildung der Arme und Hände auch dann keinen Anspruch auf eine kostenfreie Versorgung mit Implantaten und Prothetik begründet, wenn wegen der Behinderung eine selbstständige Handhabung von herausnehmbaren Prothesen nicht möglich sei. Eine medizinische Gesamtbehandlung liege nicht schon dann vor, wenn dem Behandlungsplan des Zahnarztes ein Gesamtkonzept zur Wiederherstellung der Kaufunktion des Patienten zu entnehmen ist.

Lippen-Kiefer-Gaumenspalte: Beschränkung auf den Festzuschuss für Zahnersatz rechtmäßig

Eine weitere Patientin litt an einer angeborenen doppelseitigen Lippen-Kiefer-Gaumenspalte mit Nichtanlage der Zähne 15, 14, 12-22, 25, 48, 44, 34, 38 und Zapfenzähnen 43-33. Im Jahr 2008 wurde eine Zahnersatz-Versorgung geplant, die aufgrund des Befundes auch Implantate vorsah. Das BSG entschied am 02.09.2014 (Az. B 1 KR/13R):

 

Die Beschränkung auf den Festzuschuss für Zahnersatz trotz Vorliegens einer zuvor behandelten Lippen-Kiefer-Gaumenspalte ist rechtmäßig. Nach den Behandlungs-Richtlinien besteht auch bei einer Ausnahme-Indikation kein Anspruch auf Implantate als Sachleistung, wenn eine konventionelle prothetische Versorgung ohne Implantate möglich ist.

Wann besteht eine Ausnahme-Indikation?

Die KZBV hat sich mit der Frage befasst, bei welchen Ausnahme-Indikationen von einer medizinischen Gesamtbehandlung gesprochen werden kann. Unter Beachtung der Rechtsprechung hat sie den „Leitfaden für den implantologischen Gutachter“ ergänzt, der seit dem 01.04.2016 als zweite Auflage vorliegt. Den Leitfaden für implantologische Gutachter können Sie im Download-Bereich auf der PI-Website (pi.iww.de), Rubrik „Zahnmedizin“, aufrufen.

 

In der folgenden Übersicht sind die ehemaligen und aktuellen Indikationen gegenübergestellt. So können Sie die Verschärfung besser erkennen.

 

  • Ausnahme-Indikationen nach Abschnitt VII der Behandlungs-Richtlinien
Aktuelle Indikationen seit dem 01.04.2016
Ehemalige Indikationen

Folgende Indikationen werden in der aktuellen zweiten Auflage benannt:

  • a) bei größeren Kiefer- oder Gesichtsdefekten, die ihre Ursache …

Tumoroperationen

… in Tumoroperationen …

Entzündungen des Kiefers mit extremen Ausprägungen, z. B. ausgeprägter Osteomyelitis

… in Entzündungen des Kiefers …

Operationen infolge von großen Zysten, sofern die Wiederherstellung der Kaufunktion Teil des medizinischen Gesamtziels ist (z. B. Rekonstruktion des Gesichtsschädels)

… in Operationen infolge von großen Zysten (z. B. große follikuläre Zysten oder Keratozysten) …

Operationen infolge von Osteopathien, sofern keine Kontraindikation für eine Implantatversorgung vorliegt (ohne skelettale Beteiligung und ohne Vorliegen eines übergeordneten Syndroms ist eine medizinische Gesamtbehandlung nur in sehr engen Grenzen denkbar)

… in Operationen infolge von Osteopathien, sofern keine Kontraindikation für eine Implantatversorgung vorliegt …

Angeborene Fehlbildungen des Kiefers (Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten, ektodermale Dysplasien)

… in angeborenen Fehlbildungen des Kiefers (Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten) oder …

Unfälle, sofern die angestrebte Implantatversorgung einem übergeordneten medizinischen Behandlungsziel dient

… in Unfällen haben

Dauerhaft bestehende extreme Xerostomie, oft im Rahmen einer Tumorbehandlung

Generalisierte genetische Nichtanlage von Zähnen, sofern übergeordnete Syndrome als Therapie eine medizinische Gesamtbehandlung erfordern

  • b) bei dauerhaft bestehender extremer Xerostomie, insbesondere im Rahmen einer Tumorbehandlung

Generalisierte genetische Nichtanlage von Zähnen, sofern übergeordnete Syndrome als Therapie eine medizinische Gesamtbehandlung erfordern

  • c) bei generalisierter genetischer Nichtanlage von Zähnen

Willentlich nicht beeinflussbare muskuläre Fehlfunktionen im Mund- und Gesichtsbereich (z. B. Spastiken)

  • d) bei nicht willentlich beeinflussbaren muskulären Fehlfunktionen im Mund- und Gesichtsbereich (z. B. Spastiken)

 

Fachübergreifende Gesamtbehandlung ist relevant

Somit bleibt als Ergebnis festzuhalten: Für eine Ausnahme-Indikation bei Implantat-Therapien ist nicht mehr die Schwere der Erkrankung, sondern deren fachübergreifende Gesamtbehandlung relevant.