02.10.2012·Zahnmedizin Titanunverträglichkeit: Können Titanpartikel zu Entzündungen und Periimplantitis führen?
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Titanunverträglichkeit: Können Titanpartikel zu Entzündungen und Periimplantitis führen?
von Wolfgang Schmid, Schriftleiter „Zahnmedizin Report“, Berlin
| Berichte über Titanunverträglichkeiten wurden lange als psychosomatische Phantastereien abgetan – schließlich gilt Titan als vorbildlich biokompatibel. Doch die Hinweise mehren sich, dass Titanpartikel im umliegenden Körpergewebe Entzündungsreaktionen anstoßen, die sich chronifizieren können. Solche Partikel mit Durchmessern zwischen 1 und 10 µm werden grundsätzlich in die Umgebung von Titanimplantaten abgegeben und können bei entsprechender Disposition des Patienten eine Entzündung verursachen. |
Neue Studien zeigen: Titanpartikel wandern ins Gewebe
Weltweit werden jedes Jahr mehr als 1.000 Tonnen Titan (Ti) implantiert. Metallische Prothesen, Fixierung- und Verankerungselemente werden in großem Umfang für orthopädische, kraniofaziale und dentale Rehabilitation verwendet – deren Auswirkungen auf den Körper werden allgemein als vorhersehbar eingestuft. Titan wird aufgrund seiner passiven Oxidschicht (etwa 4 nm dick) als „biokompatibel“ angesehen. Echte Allergien auf Titan stellen im Unterschied zu anderen Metallen eine Rarität dar, denn Titan-Ionen bilden durch ihre hohe Sauerstoffaffinität unmittelbar nach ihrer Freisetzung Oxide. Im Unterschied zu freien Ionen können Oxide keine Proteinbindung eingehen, sind somit keine Haptene und haben keine allergene Wirkung. Doch neuere Studien zeigen, dass diese Oberfläche nicht so robust ist wie angenommen und dass Titanpartikel ins umliegende Gewebe wandern.
Aktuelle Studiendaten britischer Wissenschaftler um Dr. Owen Addison von der Uni Birmingham geben Hinweise darauf, dass auch in Situationen, bei denen es keinen nennenswerten Verschleiß des Titanimplantats gibt, mikroskopisch kleine Partikel aus Titan in das umliegende Gewebe wandern. Dies kann proinflammatorisch sein und die Einheilung und Stabilität des Implantats beeinträchtigen. Für die Studie wurde Gewebe von Patienten untersucht, die sich einer geplanten Revisionsoperation von im Knochen verankerten Hörgeräten unterzogen. Das Weichgewebe um die Reintitan-Implantate wurde mittels Mikrofokus-Synchrotron-Röntgen-Spektroskopie untersucht. „Die Ergebnisse zeigen eine verstreute und heterogene Verteilung von Titan in entzündeten Geweben rund um die hautdurchdringenden Titanimplantate“ berichten die Autoren. Mechanische Abnutzung und Implantat-Debris schließen sie als Hauptursachen aus: „In Ermangelung von offensichtlichen makroskopischen Verschleiß- oder Belastungsvorgängen vermuten wir, dass Titan im Gewebe aus Mikro-Bewegung und örtlicher Korrosion an Oberflächenrissen stammt.“
Wie die Partikel auch ohne mechanische Belastung ins Gewebe einwandern können, ist noch nicht abschließend geklärt. Eine Rolle könnten Bakterien spielen: Brasilianische Wissenschaftler berichten, dass Bakterien auf Titan korrosiv wirken: Sie sind in der Lage, Oberflächendefekte an exponierten Titan-Oberflächen zu produzieren, was zu einer deutlichen Verschlechterung der mechanischen Eigenschaften – und damit der Lebensdauer – von Zahnimplantaten führt. Im Labortest wuchsen Bakterienkulturen (S. sanguinis und L. salivarius) schnell auf den Oberflächen von Titan-Implantaten. Nach einem Monat hatten die Bakterien bereits Korrosionsdefekte auf der Titan-Oberfläche erzeugt. Auch ist die Frage offen, wie weit Oberflächenmodifikationen (zum Beispiel Aufrauen) oder künstlich vergrößerte Oberfläche von Implantaten Einfluss auf die Proliferation von Partikeln ins Gewebe haben.
Wie diagnostiziert man die Überempfindlichkeit?
Bis heute ist der Mechanismus einer Titan-Sensibilisierung nicht vollständig entschlüsselt. Weder der Epikutantest noch der Lymphozytentransformationstest (LTT) konnten in der Vergangenheit die Erwartungen erfüllen, wenn es um die Frage des sicheren Nachweises einer Überempfindlichkeit auf Titan geht. Ursache dafür ist, dass sich der „allergisierende“ Pathomechanismus des Titans deutlich von den anderen Metallen – wie Nickel, Palladium oder Gold – unterscheidet. Denn mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich anders als bei anderen Metallen nicht um eine Typ-4-Allergie.
Nach Meinung der „Internationalen Gesellschaft für Ganzheitliche Zahnmedizin“ sind umfangreiche interdisziplinäre Diagnoseverfahren notwendig, um eine mögliche Titanunverträglichkeit aufzuspüren. Wissenschaftler der Berliner Charité entwickelten deshalb ein TNF-α-Stimulationsverfahren zur Diagnosesicherung der Titanunverträglichkeit. Die Messung dieser „Überreaktion“ ist im Labor möglich.
Die Ursache der Überempfindlichkeit
Die häufigere Ursache der titaninduzierten Periimplantitis ist die überschießende proentzündliche Reaktivität der Gewebemakrophagen nach Kontakt mit Titan(oxid)partikeln, die anhand der proentzündlichen Schlüsselzytokine Interleukin-1 und TNF-α sowohl in vivo (In-situ-Hybridisierung) als auch ex vivo (PBMC-Stimulationsüberstand) messbar ist. Diese Zytokinantwort beruht nicht auf der Anwesenheit spezifischer Lymphozyten (somit liegt definitionsgemäß keine Allergie vor), sondern auf einer erhöhten Entzündungsbereitschaft unspezifischer Entzündungszellen (Gewebemakrophagen, Monozyten) nach Kontakt mit partikulärem Titanabrieb (Debris).
2006 zeigten Wissenschaftler der Berliner Charité, dass die häufige Ursache einer sogenannten „Titansensibilisierung“ eine überschießende proinflammatorische Reaktion von Immunzellen ist, die bei Patienten nach Kontakt mit Titanpartikeln auftreten kann. Wie die Studie zeigt, beruht diese inflammatorische Reaktion nicht auf der Anwesenheit titanspezifischer Lymphozyten (daher die negativen Ergebnisse im klassischen LTT), sondern auf einer erhöhten Entzündungsbereitschaft unspezifischer Immunzellen – wie Gewebemakrophagen und Monozyten – nach Kontakt mit Debris von Titan. Die ins Gewebe freigesetzten und zumindest teilweise in die Lymphknoten transferierten Titanpartikel werden nahezu vollständig und schnell (<120 Minuten) von Gewebemakrophagen aufgenommen. Diese reagieren nach Kontakt mit Titanoxidpartikeln mit der Ausschüttung NFkB-abhängiger pro-entzündlicher Zytokine. Dabei ist das Ausmaß der Freisetzung abhängig von der Größe, Komposition und der Menge phagozytierter Partikel. Die größte biologische Reaktivität scheint auf eher kleinere Titanoxidpartikelgrößen zwischen 0,1 und 1 µm stattzufinden. Daher ist die Beschichtung von Titanoberflächen dentaler und orthopädischer Implantate mit antimikrobiellen Nanopartikeln kritisch zu sehen.
Haleem-Smith et al. konnten nachweisen, dass auch mesenchymale Stammzellen sensibel auf die Anwesenheit von Titanpartikeln reagieren. Bei mehr als rund 300 aufgenommenen Partikeln sterben dies Zellen ab, bei Dosierungen darunter reagieren sie mit dem Ausschütten von Entzündungs-Botenstoffen. Die Zellen spielen wohl eine Schlüsselrolle sowohl als Responder wie auch als Initiatoren von entzündlichen Prozessen, indem sie nach Kontakt mit Titanpartikeln Interleukin-8 (IL-8) ausschütten, was Einfluss auf die Osteolyse (Knochenabbau) rund um Implantate hat.
Proentzündliche Zytokine wie TNF-α oder lL-1 wirken allerdings nicht nur lokal. Als sogenannte proentzündliche ,,Alarmzytokine“ ist ihre wichtigste Aufgabe die Rekrutierung weiterer lmmunzellen, die Initiierung der Akute-Phase-Reaktion in der Leber sowie die Vermittlung weiterer entzündlicher Vorgänge in anderen Geweben. Damit vergrößert sich bei genetischer Disposition die Möglichkeit einer überschießenden unspezifischen Immunreaktion – die Entzündung verlagert sich und chronifiziert. Chinesische Wissenschaftler konnten zeigen, dass Cox-2-Hemmer ein wirkungsvoller Ansatz gegen die osteoklastische Aktivität verursacht durch Titanabrieb sind. Auch eine Kurzzeit-Immunsuppression durch Korticoide kann angezeigt sein.
Was tun bei titansensiblen Patienten?
Bei Patienten mit Unverträglichkeitsrisiko sollten Sie Alternativen zu Titanimplantaten erwägen oder entzündungsfördernde Faktoren minimieren:
- Zirkondioxid-Implantate oder herkömmlicher zahn- oder schleimhautgetragener Zahnersatz
- Entzündungsminimierung vor der Implantation: konsequente Prophylaxe, Parodontitis-Therapie und endodontische Sanierung. Raucherentwöhnung, optimale Einstellung von Diabetes mellitus und Vermeidung immunstimulierender Reize (Impfungen etc.) bis drei Wochen nach Implantation
- Kontakte mit Metallen in Reaktionsbereichen (Parodontalsonden) vermeiden
- Implantate nur in Knochenbereiche mit sicher ausgeheilten Entzündungen setzen
- schonende Aufbereitung des Implantatbetts: niedrige Drehzahlen, schneidstarker Bohrer und geringer Druck beim Bohren
- gegebenenfalls Keramikbohrer nutzen
- untermaßige Aufbereitung des Implantatbetts vermeiden, um den Titanabrieb durch starke Reibungskontakte bei der Einbringung zu minimieren
- Verwendung weniger abriebanfälliger Implantatoberflächen
- antibiotische Abschirmung und entzündungshemmende Begleitmedikation.
Quellen
- O Addison et al.: Do ‚passive‘ medical titanium surfaces deteriorate in service in the absence of wear? J R Soc Interface (2012), online 25. Juli 2012
- FJ Gil et al.: Effect of oral bacteria on the mechanical behavior of titanium dental implants. Int J Oral Maxillofac Implantat (2012) 27: 64-68; S Schütt et al.: Hyperactivity of Tissue-macrophages after Contact with Particles of Oxidated Titan as the Cause of an Enhanced Local Inflammatory Reaction in Patients with Periimplantitis. ZWR (2010) 119: 222-232 F Bartram: Titan-Unverträglichkeit – Ein entzündliches Geschehen? Nachweis einer hyperinflammatorischen Zytokinantwort auf Titanoxid; 7. Umweltmedizinische Tagung; Berlin 5.-6. Oktober 2007
- H Haleem-Smith et al.: Biological responses of human mesenchymal stem cells to titanium wear debris particles. J Orthop Res (2011) online 14. November 2011
- MA Vargas-Reus et al.: Antimicrobial activity of nanoparticulate metal oxides against peri-implantitis pathogens. Int J Antimicrob Agents (2012) 40:135-139
- DC Geng et al.: Protection against titanium particle-induced osteoclastogenesis by cyclooxygenase-2 selective inhibitor. J Biomed Mater Res A (2011) 99: 516-522
- ImplantatWiki: Titanunverträglichkeit und Titanallergie. www.implantate.com
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