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02.08.2016·Zahnmedizin Zahnpflege und Zahnersatz im Alten- und Pflegeheim: Was brauchen unsere Patienten?

·Zahnmedizin

Zahnpflege und Zahnersatz im Alten- und Pflegeheim: Was brauchen unsere Patienten?

von Dr. Georg Taffet, Rielasingen-Worblingen

| Was ist bei Patienten im Altenpflegeheim zu beachten? Welchen Zahnersatz brauchen sie? Wie können wir die Zahnpflege verbessern? Um diese und weitere Fragen geht es in diesem Beitrag. |

Die besonderen Probleme der alten Menschen in der Praxis

Als ich vor 25 Jahren meine Praxis übernahm, habe ich mich sehr über die vielen „Best Agers“ unter meinen Patienten gefreut: vitale Damen und Herren Anfang 60, auf dem Sprung in die Rente, finanziell gut situiert. Menschen, die noch einiges in ihrem Leben vorhatten, die manches nachholen wollten, wofür sie während ihres Arbeitslebens keine Zeit gehabt hatten. Menschen, die sich noch nicht alt gefühlt haben und auch noch nicht alt sein wollten. Patienten, die in ihrem Leben noch nicht von einer prophylaktisch orientierten Zahnheilkunde profitiert, deshalb recht viele Zähne verloren hatten und sich von diesem Verlust beeinträchtigt fühlten. Diese Klientel hat mir viel Arbeit und gute Umsätze beschert. Wir haben über die Jahre ein gutes Vertrauensverhältnis aufgebaut, ihre Kinder und Enkelkinder sind in meiner Behandlung.

 

Leider sind aber die Jahre nicht spurlos an meinen Patienten vorübergegangen: Sie sind heute Mitte bis Ende 80, manche schon über 90 Jahre alt. Viele sind plurimorbide und einige nicht mehr in der Lage, sich selbst zu versorgen. Die Konsequenz: Sie leben nun im Altenwohnheim oder Pflegeheim. Die Besuche in der Zahnarztpraxis werden auch seltener, weil sie auf eine Begleitperson angewiesen sind. Recalltermine werden nach Jahrzehnten plötzlich nicht mehr wahrgenommen, weil es wegen ihrer Gebrechlichkeit nicht mehr möglich ist.

 

Ich denke, dass viele Kollegen bei ihren Hausbesuchen im Pflegeheim ähnliche Erfahrungen machen: Die Zahnpflege ist in den Pflege- und Altenwohnheimen ein absolutes Stief- und Sorgenkind. Chronisch personell unterbelegte Heime, gestresstes und unterbezahltes Pflegepersonal, das in der Zahnpflege nicht ausgebildet ist und nicht mit den unterschiedlichen Typen von Zahnersatz umgehen kann. Nicht selten verlieren deshalb die alten Menschen in relativ kurzer Zeit ihren vorher teuer und sorgfältig angefertigten Zahnersatz und die restlichen Zähne. Periimplantitis ist nur eine Frage der Zeit, wenn die Zahnpflege nicht stimmt, ebenso wie Karies und Parodontitis. Die Nahrungsaufnahme wird für sie zur Qual, was weiteren Verfall ihrer Kräfte zur Folge hat.

Was können wir Zahnärzte dagegen tun?

Mit betriebswirtschaftlich sinnvollem Verhalten hat das alles nichts zu tun. Aber sehr wohl mit Verantwortungsbewusstsein, Menschlichkeit und Ethik. Es gibt nun mal leider kein Honorar dafür, dass man als Zahnarzt versucht, das Pflegepersonal im Heim für die optimale Zahnpflege zu sensibilisieren bei

  • Patienten, deren Augenlicht nachlässt (grauer oder grüner Star),
  • Patienten, deren motorische Fähigkeiten nachlassen (Arthrose!),
  • Pflegebedürftigen, deren kognitive Fähigkeiten nachlassen (Demenz!),
  • multimorbiden Patienten (Die Einnahme von Antihistaminika, Antihypertensiva, Parkinson-Therapeutika und Psychopharmaka führt z. B. sehr häufig zu einer Xerostomie und/oder zu Zahnfleischwucherungen).

Kann eine Fortbildung zur Mundhygiene angeboten werden?

Auf meine erste Anfrage in unserer örtlichen Altenwohn- und Pflegeanlage, ob denn eventuell Interesse an einer Fortbildung in Sachen Mundhygiene der Pflegebedürftigen bestehe, reagierten die Pflegekräfte eher abweisend: „Muss das denn sein, Herr Doktor?“ Ein kurzes Gespräch mit der Heimleitung führte jedoch dazu, dass sogleich ein Fortbildungstermin ausgemacht wurde und die Heimleitung eine Anwesenheitspflicht für das gesamte Pflegepersonal ausgesprochen hat. Die erst ausgesprochen skeptischen Pflegekräfte tauten innerhalb kürzester Zeit auf und waren sehr dankbar für meine praktischen Tipps zu den verschiedenen Zahnersatztypen und deren Handhabung.

 

Es stellte sich heraus, dass die meisten von ihnen sich nicht einmal zugetraut hatten, eine Geschiebe- oder Teleskoparbeit aus dem Mund der Patienten zu entfernen, weil ihnen die Funktion der Halteelemente nicht geläufig war. Es stellte sich auch heraus, dass in Pflegekreisen z. B. die Empfehlung kursiert, bewegungsunfähigen Patienten mit Mundtrockenheit die Schleimhäute regelmäßig mit Zitrone zu befeuchten, um den Speichelfluss anzuregen. Dass regelmäßiger Säurekontakt zu massiver Zahnhalskaries führt, war nicht bekannt.

 

Fakt ist: Es bestehen massive Fortbildungsdefizite der Pflegekräfte bei der Mund- und Zahnpflege. Die Zahnärztekammer Baden-Württemberg hat ein spezielles Programm erarbeitet, das uns bei der Schulung der Pflegekräfte unterstützen kann (siehe Link im Online-Archiv dieses Beitrags). Honorar wird es für diese Fortbildungen nicht geben. Aber nützt es auch dem Zahnarzt? Ich denke ja: Es hat am Praxisort einen positiven Marketingeffekt.

Was ist bei der Wahl des Zahnersatzes zu beachten?

Vielleicht sollten wir uns bereits bei der Wahl der Zahnersatz-Typen nicht nur Gedanken über die Langzeitprognose der Zähne und des Zahnersatzes machen, sondern auch über die Langzeitprognose des daran hängenden Patienten: Macht es z. B. wirklich Sinn, dem heute noch vitalen 75-Jährigen eine festsitzende „All-on-four“-Implantatlösung vorzuschlagen? Die flächig aufliegende, fest verschraubte Suprakonstruktion ist selbst für einen gesunden Menschen mit guten Augen und intakter Motorik sehr schwer zu pflegen. Dass dieser Patient zahnlos geworden ist, könnte für mich als Behandler doch möglicherweise ein Hinweis dafür sein, dass dieser Patient nie ein Zahnpflegeweltmeister war… Ist er also auf lange Sicht motivierbar?

 

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Patient in absehbarer Zeit auf Pflege angewiesen sein wird? Was geschieht, wenn er infolge mangelnder Pflege an dem bis in die Schädelbasis reichenden, auf 40 mm osseointegriertem Zygoma-Implantat eine Periimplantitis entwickelt? Eine Explantation dürfte schwierig sein und sich sehr invasiv gestalten. Entlang dem Implantat können Bakterien aus der periimplantären Tasche bis in die Schädelbasis penetrieren. Das kann für plurimorbide alte Patienten tödlich enden.

 

„All-on-four“-Brückenversorgungen als absolute Kontraindikation?

Sympathisch sind mir „All-on-four“-Brückenversorgungen nie gewesen. Beim älteren Patienten sehe ich sie aber als absolute Kontraindikation an: Wäre dieser Patient nicht besser beraten, wenn wir ihm auf ein paar Implantaten eine teleskopierende Arbeit empfehlen? In der Funktion gibt es sicherlich keine Nachteile – ganz im Gegenteil: Die Suprakonstruktion auf Teleskopen oder Locator sitzt genauso fest, wird eng an dem Kieferkamm anliegen können, ist unterfütterbar und sammelt keine Speisereste. Die Suprakonstruktion kann der Patient – oder später eventuell die Pflegekraft – extraoral in der Hand, unter direkter Sicht, optimal reinigen. Und die einzeln stehenden Teleskope im Mund dürften bei etwas gutem Willen, was die Reinigung angeht, auch keine größere Herausforderung darstellen …

 

Der Patientenwunsch „Ich will aber feste Zähne“ besteht nur so lange, bis er richtig über die Vorteile der herausnehmbaren Lösung aufgeklärt ist, und vor allem darüber, dass diese Konstruktion in ihrer Funktion auch genauso fest ist: Sie wackelt nicht und fällt nicht heraus. Sie ist nur dann herausnehmbar, wenn er es möchte und wenn es zur Pflege notwendig ist.

 

Der Zahnersatz sollte für die Pflegekräfte leicht zu reinigen sein

Aus Hygienegründen fertigen wir auch seit Jahren keine Stegversorgungen mehr für unsere Patienten: Unter den Stegen wuchert meistens nach kürzester Zeit die Gingiva, wegen des Unterdrucks unter der Prothese. Damit ist die Zugänglichkeit für die Pflegehilfsmittel nicht mehr gewährleistet. Die entzündlich bedingte Schwellung kommt erschwerend dazu. Haben Sie mal versucht, mit einer um ein paar Dioptrien falschen Brille – so schlecht sehen die meisten unserer älteren Patienten! – Superfloss oder Interdentalbürsten unter so einem Steg durchzuführen, um ihn zu reinigen?

 

Wir haben alle an der Uni gelernt, dass Brückenglieder, die konvex als Pontik gestaltet werden, einen tangentialen Kontakt zum Kieferkamm haben sollten, damit die Pflege gewährleistet ist. Leider vergessen die meisten von uns in der Praxis diese Regel innerhalb kürzester Zeit: Die meisten Brückenglieder, die ich im Alltag sehe, sind konkav gestaltet und sitzen aus ästhetischen Gründen mehr oder weniger sattelförmig auf dem Kieferkamm auf. Ich weiß: „Unsere Patienten wünschen das so“ werden jetzt die meisten von Ihnen denken. Meine Patienten wünschen das nicht, weil ich ihnen im Beratungsgespräch erkläre, wie sehr „foetor ex ore“ das soziale Leben beeinträchtigt, die Bakterien unter der Brücke die Gesundheit. Alte Menschen brauchen einen möglichst glattflächigen, für sie und die Pflegekräfte leicht zu reinigenden Zahnersatz.

 

Weiterführende Hinweise

  • Nachstehend zwei Links zu dieser Thematik mit näheren Informationen: