Zahnmedizin

Materialunverträglichkeiten bei Implantaten: Gibt es eine Titanallergie?

Gibt es eine Titanallergie? Eine S3-Leitlinie  gibt Handlungsempfehlungen zur Diagnostik und Therapie bei Patienten mit Unverträglichkeitsreaktionen oder prä implantationem vermuteten Unverträglichkeitsreaktionen auf Titan-Implantate.

Symptome einer Titanunverträglichkeit bzw -allergie
In der Literatur werden orale Symptome einer Titanunverträglichkeit bzw -allergie unpräzise zugeordnet. Das Auftreten von Mundschleimhautbrennen, Erythemen der Mundschleimhaut, Lippenödemen, hyperplastische Gingivitis, Depapillation der Zunge, Cheilitis angularis, periorale ekzematöse Eruption oder lichenoide Reaktionen werden beschrieben [20-24]. Daneben werden auch systemische Reaktionen wie Muskel- oder Gelenkschmerzen, neurologische Probleme, Depressionen oder das Auftreten eines chronischen Erschöpfungssyndroms beschrieben [21].

Echte Metallallergien und Unverträglichkeitsreaktionen auf Titan
Eine allergische Kontaktdermatitis oder -stomatitis ist bis auf wenige Ausnahmen Ausdruck einer Typ IV-Allergie nach der Einteilung von Coombs und Gell [2]. Bei dieser zellvermittelten Immunantwort reagieren antigenspezifische CD4+ Th1-Lymphozyten und analoge CD8+ Tc1-Lymphozyten mit den für sie spezifischen Antigenen. Innerhalb von einem bis mehreren Tagen werden hierdurch Entzündungsreaktionen ausgelöst, weshalb die Typ-IV-Allergie auch als Spättyp-Reaktion bezeichnet wird. An der oralen Mukosa wird das Auftreten von Entzündungsreaktionen nach 24 bis 72 Stunden nach Antigenkontakt beschrieben [3].

Metalle können als Substanzen mit kleiner Molekülmasse an körpereigene Proteine binden und so als Hapten fungieren und über diesen Mechanismus eine immunologische Reaktion auslösen. Die meisten kontaktallergischen Reaktionen werden auf Haptene beobachtet, wobei an der oralen Mukosa seltener allergische Kontaktreaktionen auftreten. Dies kann zum einen auf die „rinse-off“ Wirkung des Speichels zurückgeführt werden, zum anderen ist die Anzahl an Langerhans-Zellen – inaktive dendritische Zellen, welche der Antigenpräsentation dienen – in der Mukosa geringer als in der Dermis [4].

Echte Typ-IV-Allergien auf Titan sind selten
Echte Typ-IV-Allergien auf Titan sind selten, da Titanionen duch ihre hohe Sauer­stoffaffinität unverzüglich nach ihrer Freisetzung Oxide bilden. Titan oxidiert bei Exposition an der Luft und bildet eine 1-2 nm dicke Schicht Titandioxid (TiO2), welche das Titan vor Redoxreaktionen schützt [5]. Oxide können keine Proteinbindung eingehen und können somit per definitionem nicht als Hapten fungieren.

Auf Titanimplantaten formt sich aufgrund der hohen Affinität zu Sauerstoff innerhalb von 30 ms ein passiver Film Titanoxid [6,7]. Aus diesem Grund ist Titan sehr korrosionsbeständig, zudem besitzt es eine hohe Biokompatibilität, ein geringes Eigengewicht und mechanische Stabilität [8]. Aufgrund dieser Eigenschaften eignet es sich ideal als Material für dentale Implantate und Abutments.

Die Rolle von Titanoxidpartikeln aus Abrieb
Unverträglichkeitsreaktionen auf Titan können durch eine überschießende entzündliche Reaktivität von Gewebemakrophagen ausgelöst werden, die in Kontakt mit Titanoxidpartikeln kommen, welche durch partikulären Abrieb (Debris) in das periimplantäre Gewebe gelangen. Die Gewebemakrophagen schütten spezifische Zytokine aus, welche sowohl in- als auch ex-vivo messbar sind.

Die Intensität der Entzündungsbereitschaft scheint genetischer Prädisposition zu sein und es liegt keine Evidenz für die Beteiligung von spezifischen Lymphozyten vor [9,10], sodass bei dieser Art von Unverträglichkeitsreaktion von keiner Allergie nach Coombs und Gell im klassischen Sinne gesprochen werden kann.

In periimplantärem Gewebe konnten Titanpartikel in Konzentration zwischen 100 und 300 ppm gefunden werden [11]. Durch Biokorrosion werden an der Implantatoberfläche Titanpartikel durch den sauren pH-Wert im Rahmen von Entzündungsreaktionen und durch bakterielle Stoffwechselprodukte im Biofilm freigesetzt, die wiederum im periimplantären Weich- und Hartgewebe Unverträglichkeitsreaktionen hervorrufen könnten [12-14]. Makrophagen können kleine Titandioxidpartikel (<10 μm) phagozytieren, wodurch sie zur Produktion proinflammatorischer Zytokine angeregt werden [15,16].

Bei der Diskussion bezüglich einer Metallallergie bzw. einer Titanunverträglichkeitsreaktion muss hierbei bedacht werden, dass enossale Implantate vorwiegend aus Reintitan (Grad 4) bestehen, jedoch insbesondere in Suprakonstruktionen Titanlegierungen Grad 5 und andere Legierungen (Metalle) Verwendung finden.

Exkurs: Hinweise aus der Orthopädie
In Studien zu orthopädischen Hüftendoprothesen aus Metall konnte zudem eine erhöhte Prävalenz an Metallsensitivitäten bei Menschen mit Metallimplantaten festgestellt werden, als bei Menschen ohne jegliche Metallimplantate (p = 0.005) [17,18]. Kontrovers wird hierbei der Stellenwert des Metallabriebs als Ursache bzw. Folge eines Implantatversagens diskutiert. Bei orthopädischem Implantatversagen steigt der Metallabrieb und führt somit zu mehr Metallexposition im Gewebe. Die Kausalität von Implantatversagen und höheren Metallhypersensitivitäten in publizierten Fallbeispielen und Kohortenstudien ist somit kausal nicht eindeutig.

Diagnostik zur Therapieentscheidung
Zur Diagnostik einer Unverträglichkeit bei dentalen Implantaten stehen grundsätzlich verschiedene diagnostische Tests zur Verfügung.

Führend bei der Diagnostik einer Unverträglichkeit auf Reintitanimplantate ist primär die klinische Symptomatik, da eine Typ-IV-Sensibilisierung aus oben bereits beschriebenen Gründen nicht wahrscheinlich ist.

Ein Review bezüglich Endoprothesen aus Metall in der Orthopädie kommt aufgrund der niedrigen Sensitivität und Spezifität präoperativer Epikutantests zur Vorhersage unerwünschten Implantatversagens, zu dem Schluss, dass ein prä­operatives Screening nur bei Patienten mit einer Metallallergie in der Anamnese in Betracht gezogen werden sollte. Zudem sollte bei Patienten mit einem fehlgeschlagenen Implantat, welches eine Revisionsoperation erfordert, differenzialdiagnostisch an eine Überempfindlichkeit gegen eine Implantatkomponente gedacht werden [19].

In Studien zeigten sich Hinweise, dass die entzündete Umgebung (Periimplantitis/Mukositis) mit einer höheren periimplantären Titanpartikelbelastung einhergeht. Makrophagenstimulationstests versuchen diese individuelle Immunreaktion in vitro zu analysieren.

Belegt ist auch, dass Patienten bezüglich ihrer individuellen Entzündungsreaktion genetische Prädispositionen besitzen, welche in genetischen Tests nachgewiesen werden können. Die aktuell zur Verfügung stehenden Tests sind daher als hinweisende Diagnostik zu betrachten.

[!] Eine Allergiediagnose bei Titanlegierungen oder Suprastrukturen aus anderen Metalllegierungen kann daher nur unter Kenntnis des klinischen Befundes in Zusammenhang mit der Anamnese und ggf. ergänzender Diagnostik mittels Epikutantest (ECT) oder Lymphozytentransformationstest (LTT) gestellt werden.

 

  • Therapeutische Empfehlungen
    Um eine therapeutische Entscheidung zu treffen, ist die klinische Symptomatik der Patienten, welche sich durch eine lokale, immunologisch bedingte Entzündungsreaktion mit nachfolgend gestörter ossärer Integration äußert, ausschlaggebend.
  • Klassische Allergietests, wie der ECT oder der LTT sind in Bezug auf die Fragestellung einer Titanunverträglichkeit nicht zielführend, da diese Tests T-Zell vermittelte Allergien anzeigen, welche eine Titanunverträglichkeit nicht darstellt.
  • Eine Explantation stellt immer die Ultima Ratio dar.
  • Als Grund einer Unverträglichkeitsreaktion muss bedacht werden, dass in Supra­konstruktionen oder Legierungen vorkommende andere Metalle und Verunreinigungen eine Kontakt­sensibilisierung auslösen können.
  • Bei einer vermuteten titanbedingten lokalen immunologisch bedingten Entzündungsreaktion mit nachfolgend gestörter ossärer Integration können dentale Keramikimplantate als Therapieoption in Betracht gezogen werden.

S3-Leitlinie „Materialunverträglichkeiten bei dentalen, enossalen Implantaten“. AWMF-Registernummer: 083-041. Langfassung Stand Dezember 2022. Veröffentlicht Juni 2023.