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26.11.2019·SG Hannover Zahnlosigkeit durch Parodontitis: Krankenkasse muss die Kosten für Implantate übernehmen

·SG Hannover

Zahnlosigkeit durch Parodontitis: Krankenkasse muss die Kosten für Implantate übernehmen

| Eine gesetzliche Krankenkasse muss einer Patientin mit einer durch Parodontitis verursachten Zahnlosigkeit im Unterkiefer die Kosten für Implantate im Rahmen der Ausnahmeindikationen bezahlen. So hat das Sozialgericht Hannover entschieden (SG, Urteil vom 12.04.2019, Az. S 89 KR 434/18, dejure.org). Das Urteil ist bemerkenswert, da die Ausnahmeindikation „durch Parodontitis verursachte Zahnlosigkeit“ nicht in den Behandlungsrichtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) enthalten ist. PI stellt Ihnen wesentliche Aspekte der interessanten Entscheidung vor. |

Ausnahmeindikationen laut SGB V und Behandlungsrichtlinie

Nach § 28 Abs. 2 Satz 9 SGB V gehören implantologische Maßnahmen nicht zur zahnärztlichen Behandlung. Sie dürfen von den Krankenkassen auch nicht bezuschusst werden ‒ es sei denn, es liegen seltene vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 SGB V festzulegende Ausnahmeindikationen für besonders schwere Fälle vor.

 

Diese schweren Fälle für Ausnahmeindikationen hat der G-BA in der Behandlungsrichtlinie in Abschnitt VII, Ziffer 2, angegeben. Demnach liegen Ausnahmeindikationen für implantologische Maßnahmen vor

  • bei größeren Kiefer- oder Gesichtsdefekten, die ihre Ursache haben
    • in Tumor-Operationen,
    • in Entzündungen des Kiefers,
    • in Operationen infolge von großen Zysten oder infolge von Osteopathien (sofern keine Kontraindikation für eine Implantatversorgung vorliegt),
    • in angeborenen Fehlbildungen des Kiefers oder bei Unfällen,
  • bei dauerhaft bestehender extremer Xerostomie (insbesondere im Rahmen einer Tumorbehandlung),
  • bei generalisierter genetischer Nichtanlage von Zähnen und
  • bei nicht willentlich beeinflussbaren muskulären Fehlfunktionen im Mund- und Gesichtsbereich.

 

In diesen Fällen erbringt die Krankenkasse die entsprechende Leistung einschließlich der Suprakonstruktion als Sachleistung im Rahmen einer medizinischen Gesamtbehandlung.

Der Urteilsfall

Geklagt hatte eine 54-jährige Patientin, bei der aufgrund einer ausgeprägten Parodontitis letztendlich alle Zähne im Ober- und Unterkiefer entfernt werden mussten. In der Folge kam es zu einem horizontalen Abbau des Kieferknochens mit massiven vertikalen Einbrüchen. Als prothetische Versorgung wurden ihr Totalprothesen im Ober- und Unterkiefer eingegliedert. Die Oberkieferprothese erfüllte ihren Zweck, jedoch im Unterkiefer bemängelte die Patientin den schlechten Prothesenhalt und Druckstellen, die sich teils mit offenen Wunden darstellten.

 

Die Befundung eines Gutachters

Ein Gutachter stellte fest, dass sich die Prothese bereits bei der Mundöffnung vom Prothesenlager abhob. Im Gutachten heißt es auch:

 

  • Zitat aus dem Gutachten

„Die Funktionsränder sind korrekt ausgeformt. Allerdings setzt die bewegliche Schleimhaut vestibulär im gesamten Unterkiefer nahe des Kieferkammes an, frontal praktisch auf Kieferkammniveau. Aus anatomischen Gründen kann die Prothesenbasis hier wegen der fortgeschrittenen Kieferkammatrophie das Prothesenlager nicht umgreifen. Eine ausreichende Saughaftung ist hier daher nicht zu erzielen.

 

Aus zahnmedizinischer Sicht ist bei den gegebenen anatomischen Verhältnissen mit einer konventionellen Versorgung ohne den Einsatz von Implantaten ein funktionell zufriedenstellendes Ergebnis nicht zu erreichen. Der Einsatz von Implantaten ist hier zwingend erforderlich, um eine ausreichende Kaufunktion zu gewährleisten. Eine Ausnahmeindikation nach § 28 SGB V besteht allerdings nicht. Im Rahmen der GKV ist die Patientin daher meines Erachtens nicht zufriedenstellend zu rehabilitieren. Die ausgeführten Arbeiten sind jedenfalls mängelfrei.“

 

 

Patientin beantragte Kostenübernahme für Implantate

Die Patientin beantragte daraufhin eine Kostenübernahme für Implantate im Unterkiefer bei ihrer Krankenkasse, was ihr jedoch mit Hinweis auf die Ausnahmeindikationen des G-BA verwehrt wurde. Ihr daraufhin eingelegter Widerspruch blieb erfolglos, sodass sie Klage vor dem Sozialgericht erhob.

Das Urteil und die Entscheidungsgründe

Nach dem Urteil des Sozialgerichts Hannover erfüllt ein durch Parodontitis verursachter zahnloser Unterkiefer die Voraussetzungen einer Ausnahmeindikation im Sinne des § 28 Abs. 2 Satz 9 SGB V in Verbindung mit der Richtlinie des G-BA für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche vertragszahnärztliche Versorgung (Behandlungsrichtlinie). Eine „seltene“ Ausnahmeindikation liege auch dann vor, wenn zwar nicht die Erkrankung (Parodontitis) an sich, aber die Schwere der behandlungsbedürftigen Beeinträchtigung (vollständige Zahnlosigkeit) selten sei. Im vorliegenden Fall seien die Implantate der Patientin im Unterkiefer medizinisch alternativlos. Es handele sich um einen besonders schweren Fall, in dem Implantate im Rahmen einer medizinischen Gesamtbehandlung notwendig seien.

 

In den umfassenden Entscheidungsgründen führt das Gericht aus, dass Zahnlosigkeit einen „regelwidrigen“ Körperzustand darstellt und behandlungsbedürftig ist. Bleibt die Zahnlosigkeit unversorgt, schreitet die Kieferatrophie wegen des fehlenden Kaudrucks weiter fort. Implantate bieten eine knochenprotektive Wirkung. Zwar ziele die Behandlung hier nicht unmittelbar auf die Ursache des Leidens (Parodontitis); sie sei gleichwohl notwendig, um die Verschlimmerung einer Folgeerkrankung (Kieferatrophie) zu verhüten. Würde eine Krankheit in unbehandeltem Zustand zwangsläufig oder mit hoher Wahrscheinlichkeit weitere Erkrankungen nach sich ziehen, so seien medizinische Maßnahmen, die dem entgegenwirken und eine Verschlechterung des Gesamtgesundheitszustands verhüten sollen, als Behandlung der Grundkrankheit und damit als Krankenbehandlung anzusehen.

 

Zahnloser Unterkiefer ist eine „Behinderung“

Das Gericht weiter: Der zahnlose Unterkiefer ist (auch) eine Behinderung. Der Begriff der Behinderung sei von dem Krankheitsbegriff abzugrenzen. „Behinderung“ sei die mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate dauernde Abweichung der körperlichen Funktion, geistigen Fähigkeit oder seelischen Gesundheit von dem für das Lebensalter typischen Zustand, durch die die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt würde.

 

Im Unterschied zur Krankenbehandlung, die auf eine Heilung der Krankheit zielt, gehe es beim Behinderungsausgleich um den Ausgleich verlorener Körperfunktionen. Da Implantate fest im Kieferknochen verankert seien und in Verbindung mit einer ‒ noch zu beantragenden ‒ Suprakonstruktion die verlustige Kaufunktion der Zähne ersetzen, handele es sich um ein Element eines unmittelbaren Behinderungsausgleichs. Die Implantatversorgung würde beide Zielrichtungen verfolgen. Eine Abgrenzung sei wegen der fließenden Übergänge schwierig und hier auch nicht erforderlich. Denn in beiden Fällen setze ein Leistungsanspruch gegen die Krankenkasse voraus, dass die Bedingungen für eine Ausnahmeindikation erfüllt seien.

 

Recht auf Sachleistung bei zwingend notwendigen Ausnahmefällen

In den Urteilgründen verwies das SG u. a. auf die Gesetzesbegründung zum 2. GKV-Neuordnungsgesetz (Bundestag Drucksache 13/7264 vom 19.03.1997), in der es heißt (Auszug): „Die Regelung stellt abweichend vom bisherigen Recht sicher, dass Versicherte in zwingend notwendigen Ausnahmefällen im Rahmen einer medizinischen Gesamtbehandlung implantologische Leistungen einschließlich der Suprakonstruktion als Sachleistung erhalten.“

 

Nach Auffassung der Kammer können seltene Ausnahmeindikationen im Sinne des § 28 Abs. 2 Satz 9 SGB V auch dann vorliegen, wenn zwar nicht die Erkrankung (Parodontitis) an sich, aber die Schwere der behandlungsbedürftigen Beeinträchtigung (vollständige Zahnlosigkeit) selten ist. Bei systematischer Betrachtung erscheine es nicht überzeugend, die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung an die statistische Seltenheit einer Erkrankung anzuknüpfen.

 

Ausnahmeindikation kann trotz Mitverschulden einer Parodontitis vorliegen

Das Gericht äußerte sich auch zu der Frage, ob und wie sich ein Mitverschulden auf den Anspruch auf das Vorliegen einer Ausnahmeindikation auswirkt. Demnach liegt eine Ausnahmeindikation auch bei größeren Kiefer- oder Gesichtsdefekten vor, die ihre Ursache in Unfällen haben. Unfälle seien weder selten noch spiele es für die Leistungspflicht der Krankenkassen eine Rolle, ob ein Unfall eigen- oder fremdverschuldet verursacht wurde. Auch ein Eigen- oder Mitverschulden bei der Verursachung einer Parodontitis würde nicht ausschließen, dass eine Ausnahmeindikation vorliegt.